Alex Dajnowicz: Mit Handicap nach oben

Klettern für Menschen mit Beeinträchtigung

01.02.2022

Vor fünf Jahren überbrachte ein Arzt Karen eine schlimme Nachricht: Sie werde ein Leben lang im Rollstuhl sitzen. Damals war ihr Sprachzentrum gestört, sie konnte nicht mehr reden, ein Bein spürte sie nicht mehr. Die 51-Jährige leidet an Multipler Sklerose. MS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die häufig zu Behinderungen führt. Doch Karen gab nicht auf. Sie kämpfte sich verbissen zurück in ein einigermaßen normales Leben. „Dank der Therapie und weil ich wieder klettern konnte“, sagt sie rückblickend. Jetzt sitzt sie nicht mehr im Rollstuhl, spricht wieder. Und steigt angeseilt und vollauf konzentriert nach oben, von einem Tritt und Griff zum nächsten, an der zehn Meter hohen Wand im Kletterzentrum.

Unten steht ebenso konzentriert Alex Dajnowicz, der Karen am Seil sichert und in dieser Stunde die Verantwortung übernommen hat für eine kleine Gruppe von Kletterinnen und Kletterern, die alle voll motiviert die Wand hochkraxeln. Wie alle übrigen Sportler im Kletterzentrum auch – nur mit einem großen Unterschied: sie haben ein Handicap. Sie gehören der Gruppe der ParaVertikalen (PV) an, ein Angebot der Sektion seit Anfang 2019, dem sich derzeit rund 30 Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen angeschlossen haben. Alex, 49, ist der Leiter des Trainerteams, dem Alina, Franzi, Kerstin, Maxi, Hannes, Matthias, Volker und Mathias angehören. Alex ist diesmal das Ehrenamtsportrait gewidmet, stellvertretend für das gesamte Team.

Zurück zu Karen, die gerade ein 3+ Route hochklettert. Mit viel Ehrgeiz, wie sie nach dem Abseilen sagt. Wie alle anderen ParaVertikalen auch muss sie stets an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gehen, denn es gilt, zusätzliche Probleme zu überwinden. „Das Aufsetzen der Füße kostet viel Kraft, das Gleichgewicht zu halten und die Koordination sind weitere Probleme für mich“, umreißt sie die Schwierigkeiten in der Kletterwand. Auch Uschi, 60, leidet an MS, die bei ihr vor elf Jahren diagnostiziert wurde.

Früher, so erzählt sie, spielte sie Handball bei TG Viktoria Augsburg und TV Jahn Augsburg, fuhr Motorrad, lief Ski. Auf all dies muss sie, wie sie sagt, „schweren Herzens“ verzichten. „Dafür kann ich aber klettern“, sagt Uschi, dankbar für das Angebot der Sektion. „Ich muss es mir zutrauen, und ich muss es bewältigen können“. Man sieht, dass das Hochgehen in der Wand alles andere als einfach für sie ist. Langsam setzt sie einen Fuß auf, zieht sich hoch. Besonders wichtig sei ihr eine gute Sicherung am Seil. Sie habe Vertrauen in die Trainer*innen. Auch Corinna, 24, deren rechte Hand durch eine Lähmung beeinträchtigt ist, klettert gerade eine 3+ und weiß, dass sie sich auf Alex, der sie am Seil hält, verlassen kann. Beim Klettern ist ihre rechte Hand verspannt, sie spürt sie weniger, auf Dauer lässt die Kraft nach.

Die ParaVertikalen sind ein Projekt der Inklusion, das Menschen mit Beeinträchtigung gleichberechtigtes Klettern ermöglichen soll. Die Idee dazu, die im Vorstand geboren wurde, haben Alina Dajnowicz, die 2. Vorsitzende der Sektion, und ihr Ehemann Alex aufgegriffen. „Die ParaVertikalen sind Alinas Baby“, sagt Alex anerkennend. Alina hat als Trainerin die Lizenz C „Klettern für Menschen mit Behinderung“. Ehemann Alex befindet sich derzeit in Ausbildung dafür. Seit Alina das Amt im Vorstand übernommen hat, ist ihr Ehemann als Leiter des Trainerteams in ihre Fußstapfen getreten. Die Kurse der PV dauern vier Monate, neun Plätze in einer Gruppe sind immer mit drei Trainer*innen besetzt. Dienstags und freitags treffen sich die Gruppen für je zwei Stunden in der Kletterhalle – eine bunt gemischte Truppe mit unterschiedlichen Handicaps – von halbseitiger Lähmung bis MS.

„Es sind auch Rollstuhlfahrer*innen dabei, die wir sehr individuell mit hohem technischem Aufwand unterstützen, so mit einem Flaschenzug mit Beinschleifen und Umlenkrollen“, erzählt Alex. Natürlich wird die Sicherheit großgeschrieben. Der 49-Jährige hat einen eigenen Kurs „Persönliche Schutzausrüstung“ (PSA) absolviert und prüft vor dem Einsatz alle Hilfsmittel genauestens. Die Motivation sei unterschiedlich bei den ParaVertikalen. „Die einen wollen sich in der Schwierigkeit steigern, andere legen viel Wert darauf, ihre Technik zu verbessern. Aber alle haben den Ehrgeiz sich zu steigern“, weiß er. Und alle seien zufrieden, wenn sie es geschafft haben. „Sie sind oben und lachen. Und das ist auch für uns Trainer*innen ein tolles Gefühl“, verrät Alex, dass auch etwas zurückkommt. „Das gibt uns Trainer*innen mehr, als wenn ein*e Sportler*in ohne Handicap schnell oben steht und triumphiert“. Wenn man sehe, was die PV leisteten, welchen Ehrgeiz sie aufbrächten, dann werde man als Gesunder einfach zufriedener. „Ich beneide den Ehrgeiz, den ich als Gesunder so nicht aufbringen kann“, gesteht Alex.

Die ParaVertikalen fühlen sich in der Gruppe wohl, sich austauschen zu können, über alles mit den anderen reden zu können. Und sie zollen unisono den Trainern viel Lob für deren Engagement und Einfühlungsvermögen, für die „motivierende Unterstützung des Teams“.

Das Lob und die Zufriedenheit der ParaVertikalen sind für Alex wiederum Motivation für das Ehrenamt, das nicht nur aus seiner Trainertätigkeit in der Halle besteht. „Das Ehrenamt macht mir Spaß, ein Verein kann ja nur mit Leuten leben, die sich engagieren“, nennt er einen weiteren Grund für seine Arbeit in der Sektion. Alex ist auch mitverantwortlich für den Materialverleih in der Sektion. „Einmal im Jahr wird das gesamte Material gründlich überprüft, außerdem, wenn es von der Ausleihe wieder zurückkommt“, schildert er seinen Dienst als ausgebildeter Prüfer. Und nachdem aller guten Dinge drei sind, wie ein alter Spruch besagt, hat er noch eine ganz andere „kletterfremde“ Aufgabe übernommen. Er erstellt alle Druckmedien für die Vorträge der Sektion, vom Flyer bis zu den Plakaten, kümmert sich um Entwürfe und Layout.

 

Autor: Klaus Utzni